Leseprobe
Schattensamt
Prolog
Adam duckte sich unter einer plötzlichen Sturmbö. Unter der Kapuze seiner dichten Wachsjacke warf er einen skeptischen Blick auf das Wasser des Loch Linnhe. Die Wellen wurden immer rauer und hatten längst die Farbe von flüssigem Blei angenommen. Das Ufer der kleinen Insel von gegenüber verschwand nahezu vollständig hinter einem Vorhang aus schwerem Regen. Es wurde Zeit, dass er nach Hause kam.
Ein letztes Mal beugte er sich vor und nahm Ewe, seiner Setter Hündin, den Stock aus ihrem triefenden Maul. Begeistert kläffte das Tier, völlig unbeeindruckt von der Wetterlage und der Tatsache, dass ihr Fell bereits in dicken roten und weißen Strähnen am schlanken Körper klebte. Adam holte aus und schleuderte den Ast, soweit es bei dem Wind möglich war. In riesigen Sätzen sprang sie hinterher und stürzte sich in das Wasser, während Adam die Jacke fester um seinen Hals zog und sich auf den Weg zu seinem Auto machte. Ewe würde schon von alleine nachkommen. Doch als er gerade den Schlüssel in das Türschloss steckte, hielt er inne. Der Klang ihres Kläffens hatte sich verändert. Aus dem fordernden Bellen, das sie von sich gab, wenn sie spielen wollte, war ein aufgeregter Laut geworden. Besorgt sah er auf und kniff die Augen zusammen. Ewe stand mit den Pfoten im seichten Wasser des Uferbereichs, das aufgebracht gegen das Land stürmte, und bellte etwas an, das unmittelbar vor ihr lag. Seufzend steckte Adam den Schlüssel wieder in seine Jackentasche und ging neugierig zu dem Hund, der mit seinem völlig durchnässten Körper das Fundstück verdeckte.
»Na, meine Kleine, was …« Seine Stimme erstarb. Dann fluchte er laut und stürzte vor, als er sah, was Ewe aus dem Wasser gezogen hatte. Ein nacktes Baby lag wimmernd auf dem von harten Kieselsteinen bedeckten und Wasser umspülten Boden.
Adam riss sich die Jacke vom Körper und schlug das Baby in den dicken Stoff ein wie in eine Decke. Dann presste er es behutsam gegen seinen Oberkörper und rannte, so schnell er konnte zum Auto.
Kapitel 1
Mehr als gelangweilt starrte ich durch das Fenster an meiner Seite unseres Wagens und gab mich ganz der Musik hin, die in gerade noch erträglicher Lautstärke durch die Kopfhörer direkt in meinen Verstand hämmerte. Ich hatte so gar keine Lust auf diesen Urlaub. Wer war nur auf die Idee gekommen, die Ferien ausgerechnet in Schottland, irgendwo im nirgendwo, zu verbringen? Jede andere vernünftige Familie fuhr in den Süden nach Mallorca oder nach Griechenland. Aber nein, meine Eltern wollten es mal wieder anders machen. Wie das nervte.
Noch mehr nervte mich, dass ich selbst schuld war. Meine Eltern hatten mir angeboten, mit einer Freundin auf eine Jugendreise zu gehen. Meine beste Freundin Julia hatte Prospekte angeschleppt und Vorschläge gemacht. Ich hatte mich zwischen den ganzen Angeboten nicht entscheiden können. Mal wieder. Damit war dann das Vorhaben gescheitert, und ich ärgerte mich seitdem. Der Landschaft um mich herum gönnte ich bewusst keinen einzigen Blick, was nicht einfach war. Denn meine Mutter fiel bei jedem Berg, den sie sah, und das waren nicht wenige, beinahe in Ohnmacht vor Begeisterung, während mein Vater sich geduldig um jede Kurve der schmalen Landstraßen schlängelte und mein Bruder nebenan mit der Kotztüte spielte, die er für sogenannte Notfälle neben sich liegen hatte.
Ich verdrehte die Augen und begegnete den fragenden Blicken meiner Mutter, die sich auf ihrem Sitz herumgedreht hatte.
»Was?«, fragte ich und zog missmutig die Stöpsel aus meinen Ohren.
»Weißt du, du hast dir wirklich selbst zuzuschreiben, dass du jetzt mit uns hier bist. Also pack deine schlechte Laune irgendwo anders hin, Klara. Hast du mich verstanden?«
Na toll. Das fing ja wirklich gut an. Aber sie hatte Recht. Ich machte es nicht besser, wenn ich mir die nächsten Wochen einfach nur selbst leidtat. Also nickte ich lahm und wollte mich wieder in meine Musik zurückziehen. Doch meine Mutter war noch nicht fertig.
»Loretta sagt, wir sind gleich da. Sollen wir noch vorher im Supermarkt einkaufen oder möchtest du lieber direkt zum Ferienhaus?«
»Oh nein, nicht direkt einkaufen. Ich will jetzt endlich in mein Zimmer.«
»Ich will auch nicht erst einkaufen. Ich will erst das Haus sehen«, maulte mein Bruder und presste die Kotztüte zusammen.
»Na gut, dann machen Papa und ich das später.« Meine Mutter setzte sich wieder richtig hin, unerschütterlich in ihrer guten Ferienstimmung. Ich seufzte und wollte mich gerade wieder in meine Musik absetzen, als die roboterhafte Stimme unseres Navigationsgerätes erklang:
»Links abbiegen in die Schtewensohns Haus.«
Meine Eltern lachten über die Sprachschwierigkeiten des Navis, das wir vor einiger Zeit Loretta getauft hatten. Selbst ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich hörte, was es aus dem Stevensons House machte. Neugierig geworden setzte ich mich auf und sah nach vorn. Wir fuhren einen schmalen Schotterweg zwischen einigen Bäumen hindurch. Dahinter lag auf einem sanften Hang ein weißes Farmgebäude, als hätte es jemand extra für eine kitschige Urlaubsidylle dort platziert. Unser Ferienhaus!
Nur wenig später fuhren wir auf den Hof. Langsam konnte auch ich mich der aufgeregten Stimmung im Auto nicht mehr entziehen. Kaum hatte mein Vater den Motor abgestellt, rissen mein Bruder und ich gleichzeitig die Türen auf, um als Erste auszusteigen. Augenblicklich sprangen uns zwei große Hunde entgegen, die uns freudig begrüßten.
»Herzlich willkommen auf unserer Farm«, sagte da ein Mann, der zusammen mit einer Frau aus dem Gebäude trat und meinem Vater die Hand entgegenhielt. »Ich bin Adam, und das ist meine Frau Mairee.«
»Guten Tag!«, entgegnete mein Vater und stellte uns der Reihe nach vor. Adam und Mairee schüttelten uns die Hände. Mir waren die beiden auf Anhieb sympathisch. Sie waren etwas älter als meine Eltern. Adam trug eine Mütze, die seine grauen Haare verdeckte, und um seine Augen hatte sich eine ganze Armee von Lachfältchen versammelt. Seine Frau wirkte ein wenig wie eine nette alte Oma, klein und rund mit freundlichen warmen Augen. Sie wandte sich zuerst an meinen Bruder und mich:
»Ich zeige euch zuerst den Garten, da könnt ihr spielen und seid ganz für euch«, zwinkerte sie uns zu. Nicht, dass ich noch spielen würde. Aber vielleicht fand sich ja eine gemütliche Ecke, in der ich mal ungestört meine mitgebrachten Bücher lesen konnte. Wahrscheinlich blieb mir in dieser langweiligen Gegend sowieso nichts anderes übrig als von morgens bis abends zu lesen. Also folgten Finn und ich ihr neugierig, während meine Eltern mit Adam in das Ferienhaus gingen.
Der Garten war riesig! Es war einfach unglaublich, was sich dort an Pflanzenvielfalt verbarg. Überall blühte es in den unterschiedlichsten Farben, und Schmetterlinge und Bienen umtanzten wie winzige Feen das Blütenmeer. Mein Bruder sauste davon und verschwand im Gehölz, während Mairee auf einen kleinen runden Pavillon zusteuerte, der sich unter der üppigen Last einer großen Kletterpflanze mit unzähligen langen blauen Blütendolden duckte.
»Hier kannst du es dir gemütlich machen und vielleicht lesen, wenn du magst«, wandte sich Mairee an mich und deutete auf eine breite Bank, die im Schatten darin stand und mit großen, roten Kissen ausgestattet war.
»Oh ja«, seufzte ich. »Es ist wunderschön hier.«
Mairee lächelte mich stolz an. »Den Pavillon hat Adam selbst gebaut.«
»Für meine Mutter zur Hochzeit.«
Erschrocken drehte ich mich um, und mein Herz setzte gleich noch einen weiteren Sprung aus. Vor mir stand ein Junge, einen guten Kopf größer als ich, und strahlte mich aus den schönsten Augen der Welt an.
»Fearghas, du sollst dich doch nicht immer so anschleichen!«, schalt ihn Mairee, die meine Reaktion glücklicherweise falsch verstand. »Es muss dir nicht peinlich sein, wenn er dich erschreckt hat. Das passiert mir auch immer wieder.« Beruhigend tätschelte sie meinen Arm und deutete dann auf den Störenfried, der mich grinsend musterte. »Das ist mein jüngster Sohn, Fearghas. Und das hier, mein Freundchen, ist Klara, unser neuer Feriengast. Also benimm dich. Wir können es uns nicht leisten, dass du uns die Feriengäste verschreckst.«
»Ja, natürlich, Mum!«, sagte Fearghas und fuhr sich mit der Hand durch die dichten und strubbeligen dunkelbraunen Haare. »Aber Dad hat gesagt, ich soll mich bei dir melden, weil ich etwas für dich erledigen soll.«
»Ja, ich möchte, dass du mir die alten Rosenbüsche ausgräbst, die hier neben dem Pavillon stehen. Sie sind völlig kaputt, und ich möchte neue Büsche einsetzen.«
»Gut, ich mache mich gleich nach dem Essen dran, und dir und deiner Familie wünsche ich einen angenehmen Aufenthalt«, wandte er sich an mich, zwinkerte seiner Mutter zu und ging über die große Wiese davon.
Ich hatte keine Gelegenheit mehr, ihm nachzusehen, weil mein Bruder unter lauten Geknacke aus dem Unterholz brach: »Mensch, Klara, da hinten ist ein total cooler Baum. Da hängt ein Seil zum Schwingen drin.«
»Bist du nicht ein bisschen zu alt für so was?«, fragte ich etwas ungnädig.
»Ah, du hast den ältesten Teil des Gartens entdeckt, Finn. Der Baum ist ungefähr eintausend Jahre alt.«
Mein Bruder schrie begeistert auf, während ich mir nicht sicher war, ob das Mairees Ernst war. Doch als sie mir kurz darauf stolz das knorrige alte Ding präsentierte, hatte ich keine Zweifel mehr. Ich hatte niemals zuvor so einen Baum gesehen. Es sah aus, als stände nur noch ein Gerüst, bestehend aus unzähligen ineinander verwachsenen Ästen. Fasziniert folgte ich mit den Augen den Windungen und hatte das Gefühl, dass von dem Baum etwas Mystisches ausging. Finn kletterte völlig unbeeindruckt durch die verzweigten Äste, ließ sich von oben herab auf das Seil zu rutschen und schaukelte wie ein Affe durch den gewaltigen Schatten, den der Baum warf. Nun gut, ich war eindeutig zu alt dafür und nicht unglücklich, als meine Eltern auftauchten und sich zu uns gesellten. Mairee zeigte meiner Mutter die einzelnen Pflanzen, während mein Vater den Baum bewunderte, in dem Finn immer noch umherschwang.
Zeit, mir das beste Zimmer auszusuchen, dachte ich und ging zu unserem Ferienhaus zurück, um die Gelegenheit beim Schopf zu packen.
*
Nachdem mein Bruder und ich uns doch noch über einen kleinen Streit endlich geeinigt hatten, wer welches Zimmer bekam und sämtliche Kisten und Koffer im Ferienhaus verstaut worden waren, fuhren meine Eltern mit Finn zum Einkaufen. Ich beschloss, die Zeit zu nutzen und mich zum Lesen in den Pavillon zu verziehen.
Also machte ich mich mit Buch, Keksen und einer Flasche Wasser bewaffnet auf, durchquerte den Garten und machte es mir zwischen den vielen weichen Kissen, die auf der Bank lagen, gemütlich. Zufrieden schloss ich für einen Moment die Augen und atmete tief ein. So hätte ich mir gut vorstellen können, in einem orientalischen Zelt zu liegen. Warm war es in Schottland seltsamerweise auch. Ganz anders, als ich es erwartet hatte, schien eine freundliche Sonne von einem wolkenfreien Himmel herunter. Es war beinahe so, als wollte das Land mich davon überzeugen, dass es keine schlechte Alternative zum sonnigen Süden war. Genüsslich kuschelte ich mich in die Kissen und griff schließlich nach dem Buch, für das ich mich entschieden hatte. Die Geschichte fesselte mich vom ersten Satz an. Sie handelte von einem Mädchen, das aufgrund einer Familientragödie gezwungen war, nach Schottland zu ziehen. Ich liebte Geschichten, die in dem Land spielten, in dem ich gerade in Urlaub war, und verschlang Zeile um Zeile in rasendem Tempo. Natürlich traf das Mädchen dort den geheimnisvollen Unbekannten, natürlich verliebten sie sich ineinander, und natürlich war er irgendein mystisches Wesen. Ziemlich unrealistisch! Trotzdem traumhaft schön!
Seufzend schlug ich eine Seite um und sah auf und mich wieder einem Paar verdammt schöner Augen gegenüber, die mich ein wenig skeptisch musterten. Erschrocken setzte sich mich gerade auf und klappte das Buch zu. Dabei stieß ich die offene Flasche Wasser um, deren Inhalt sich augenblicklich über mein Buch ergoss.
»Au, verdammt!«, schrie ich und sprang hektisch ganz auf. Mit der einen Hand griff ich nach der Flasche Wasser, um sie wieder aufzustellen, während ich mit der anderen das Buch hin und her schlenkerte, um das Wasser abtropfen zu lassen. »Was bist du nur für ein Stalker?«, schimpfte ich dabei wütend auf Fearghas ein, der mir lachend ein Handtuch reichte.
»Ich habe dich angesprochen. Ich kann nichts dafür, wenn du taub bist wie eine alte Frau.«
»Ich bin nicht taub!«
»Du hast mich aber nicht gehört«, stellte er ruhig fest.
»Ich habe vielleicht gelesen? Und dabei achte ich nun einmal nicht permanent darauf, ob sich irgendwelche Spanner in meiner Nähe befinden.«
»Es tut mir sehr leid, wenn ich dich da enttäuschen muss, aber ich wollte dich nicht heimlich beobachten. Ich bin hier, - falls du dich erinnerst - weil meine Mutter mich darum gebeten hat, die Rosenbüsche auszugraben. Aber vielleicht ist dein Gedächtnis ebenso schlecht wie dein Gehör.«
Sprachlos starrte ich ihn an, und er starrte nicht gerade freundlich zurück. Dennoch fielen mir seine ungewöhnlich großen, aber leicht mandelförmigen dunklen Augen auf. Dichte und viel zu lange Wimpern umrahmten diese unglaublichen Gebilde, um die ihn jedes weibliche Wesen beneiden musste.
Er hatte Recht, und ich war der Idiot! Peinlich!
»Ich war in mein Buch vertieft. Es tut mir leid«, murmelte ich und wich seinem Blick aus, indem ich prüfend über den Einband meines Buches strich. Es schien von der Katastrophe glücklicherweise nicht beschädigt worden zu sein. Dann tupfte ich mit dem Handtuch über die feucht gewordenen Kissen. Gut, dass ich nur Wasser dabei hatte. Das gab wenigstens keine Flecken.
Als ich wieder aufsah, hatte Fearghas sich bereits den Rosenbüschen zugewandt, die wirklich einen traurigen Anblick boten. Die wenigen Blätter an den Stielen waren mit kleinen Punkten übersät und gelblich. Nur zwei Blüten hielten in diesem Trauerspiel die Köpfe standhaft aufgerichtet. Irgendwie taten sie mir leid, als Fearghas den Spaten mit Schwung in den festen Boden rammte. Er arbeitete schnell und kraftvoll und beachtete mich nicht mehr. Naserümpfend dachte ich an eine beleidigte Mimose und musste mir eingestehen, dass ich viel zu lange dazu brauchte, das feuchte Handtuch über die gedrechselte Brüstung des Pavillons zum Trocknen auszubreiten. Dabei schielte ich auf seine Bewegungen und musste zugeben, dass ich diesmal der Stalker war.
Ich widerstand der Versuchung, ein Foto mit meinem Handy zu machen. Aber tatsächlich bot Fearghas einen Anblick, der mir ausgesprochen gut gefiel. Er trug eine Jeans, die locker um seine schmalen Hüften saß und darüber ein stinknormales grünes T-Shirt. Bei jedem Stoß mit dem Spaten zeigten sich wohlgeformte Muskeln. Unwillkürlich grinste ich und musste an meine Freundin Julia denken. »Der Typ ist heißßßß!«, würde sie sagen, ganz klar. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich jetzt genau das tat, was ich vorhin bei ihm so schändlich verdammt hatte. Meine Wangen erhitzten sich von ganz alleine, und ich zog mich schnell auf die Bank zurück. Ich schlug das Buch wieder auf, darum bemüht, mich auf den Inhalt zu konzentrieren. Doch bereits nach wenigen Zeilen hatte mich die Atmosphäre in der Geschichte bereits aus der Realität entführt.
*
Ich war so versunken, in mein Buch, dass ich gar nicht bemerkte, wie die Zeit verging. Erst das laute Rufen Finns riss mich zurück.
»Klara! Wir wollen runter ans Loch. Kommst du mit?«
Keuchend blieb er vor mir stehen und hatte dabei nicht wenig Ähnlichkeit mit einem Hund, der einem die Leine bringt, damit man mit ihm Gassi geht. Eigentlich verspürte ich wenig Lust, mich von meinem Buch zu trennen, aber andererseits wollte ich es auch nicht zu schnell durchlesen. Es war schon merklich dünner geworden, und das gefiel mir auch nicht. Ich warf einen Blick an Finn vorbei nach draußen. Immer noch strahlend blauer Himmel! Nicht gerade typisches Schottland-Wetter, aber bestimmt schön, um ans Wasser zu gehen. Also nickte ich, woraufhin Finn bereits wieder herumwirbelte und schreiend davonrannte, dass ich mitkommen würde.
Von Fearghas war weit und breit nichts mehr zu sehen. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er die Büsche ausgegraben und das Beet anschließend säuberlich wieder hergerichtet hatte. Wenigstens hatte er mich in Ruhe gelassen. Nicht dass ich Interesse an der Bekanntschaft mit irgendeinem dahergelaufenen Schotten gehabt hätte.
Meine Eltern und Finn warteten bereits vor dem Haus. Gemeinsam liefen wir den Schotterweg herunter und erreichten innerhalb weniger Minuten das Loch, an dessen Ufer wir einer Straße bis zu einem kleinen Bootshafen folgten. Eine kleine Insel schirmte sie vom Rest des Lochs ab, in deren Bucht dadurch einige Segelboote in ruhigerem Wasser dümpelten. Im Hintergrund waren die Berghänge vom gegenüberliegenden Ufer zu sehen, die sich wie mächtige Wächter über die Szenerie erhoben. Es war wunderschön, und meine Mutter sparte wieder nicht mit begeisterten Ausrufen. Immer wieder blieb sie stehen und machte Fotos, während Finn bereits mit seinen Croqs direkt ins Wasser rannte.
»Das ist überhaupt nicht kalt. Ich will schwimmen gehen!«
»Jetzt warte doch erst einmal ab«, rief meine Mutter und watete ebenfalls mit ihren Trekkingsandalen hinein. »Ist das Wasser klar, schaut doch nur.« Sie winkte zu meinem Vater und mir herüber, dabei strahlten ihre blauen Augen. Meine Mutter liebte Wasser über alles. Für sie setzte in dem Augenblick die Erholung ein, wenn sie ein Stückchen Meer oder etwas Vergleichbares sah. Das Loch schien ganz klar ihren Ansprüchen gerecht zu werden.
Mit lautem Gebell sprang einer der Hunde, die uns vorhin auf der Farm begrüßt hatten, zu Finn ins Wasser und stellte sich abwartend vor ihn hin. Mein Bruder lachte laut, griff sich einen Stein und warf ihn in hohem Bogen ins Wasser. Der Hund sprang hinterher, kehrte dann zu ihm zurück und bellte erneut.
»Etive! Aus!«, schrie Adam, der plötzlich hinter mir aus einer kleinen Hütte auftauchte, den anderen Hund neben sich. Ich hätte schwören können, dass dieser Hund etwas abfällig auf seinen Kameraden herabsah.
»Hallo Adam«, sagte ich und lächelte.
»Hallo, Klara. Etive ist ein alter Hund, aber immer noch total verrückt wie ein Welpe. Ganz anders als unsere Dee.« Zärtlich tätschelte er der Hündin über den Kopf, die schwanzwedelnd davon rannte, als Fearghas auf dem Bootssteg auftauchte. Nahezu gleichzeitig trennte auch Etive sich von ihrem Spiel mit Finn und lief auf ihn zu. »Ja, da hält keiner von uns mit. Sobald Fearghas auftaucht, ist kein Tier hier mehr zu halten. Alle wollen sie von ihm gestreichelt werden.« Das Lächeln Adams wurde breiter und überstrahlte sein ganzes Gesicht. Es war sicherlich auch markant zu bezeichnen, da nicht zu übersehen war, dass er sich wohl die meiste Zeit an der frischen Luft aufhielt, hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Sohn. Auch die Statur war vollkommen unterschiedlich. Während Fearghas groß und schlank war, war sein Vater eher klein und drahtig.
Eine Frau kam den Weg entlang und beanspruchte Adams Aufmerksamkeit, sodass ich mich zu meiner Mutter und meinem Bruder gesellte. Das Wasser sah wirklich verlockend aus. Hätte ich doch nur das Badezeug mit runter genommen. Mein Bruder stand schon bis zu den Oberschenkeln im Wasser, während meine Mutter sich die Beine ihrer Jeanshose so weit wie möglich aufgekrempelt hatte. Mit einem vielsagenden Blick von Adam zu Fearghas sagte sie: »Den Postboten möchte ich gerne mal sehen«. Damit brachte sie meine Überlegungen auf den Punkt. Wir grinsten uns verschwörerisch an.
Hinter ihr ließ sich Finn mit einem gespielten Stolpern und einem theatralischen Aufschrei der Länge nach in das Wasser fallen.
»Gut, dass wir es nicht weit haben«, lachte sie. »Willst du nicht auch?«
»Au ja, Klara. Lass uns vom Steg ins Wasser springen!«
Lust hatte ich schon, aber das Wasser musste doch total kalt sein. Schließlich hatte das Loch eine direkte Verbindung zum Meer. Ein wenig misstrauisch schnürte ich meine Turnschuhe auf und streifte sie ab. Vorsichtig trat ich in das Wasser und war überrascht. Es war wirklich gar nicht so kalt.
Übermütig rannte Finn an mir vorbei und stand schon hüpfend und springend auf dem Steg. Seine dunklen Haare klebten in dicken Strähnen um sein rundes Gesicht.
»Komm schon, Klara! Lass uns springen!«
Fearghas, der sich gerade mit meinem Vater unterhielt, sah zu mir, und das gab mir damit den Rest. Eigentlich war seine Miene neutral, aber sicher erwartete er, dass ich kneifen würde. Jetzt erst recht. Schnell rannte ich zu meinem Bruder, der schon auf eine Stelle zwischen zwei Booten zeigte.
»Hier! Hier ist prima!«
»Wir springen bei drei!«, rief ich. Er nickte begeistert und stellte sich in Sprungposition.
»Eins!«
»Zwei!«
»Dr …«
»Warte!«, schrie ich, plötzlich doch unsicher und kicherte. Das Wasser war total klar, aber vielleicht doch zu kalt, wenn man dann so da reinsprang?
»Ach Mensch, Klara! Was ist denn?«
»Ist es auch tief genug?«
»Ja.«
»Okay, dann bei drei.«
»Eins! … Zwei! …«
»Halt, Moment noch! Bist du sicher?«
Finn verdrehte die Augen. »Also willst du jetzt springen, oder nicht? – Schau mal, da unten ist eine schöne Muschel.«
»Wo?« Neugierig lief ich näher und beugte mich vor, um besser sehen zu können. Da schimmerte mir wirklich eine große runde Muschel verlockend auf dem sandigen Boden des Lochs entgegen.
Plötzlich erhielt ich einen heftigen Stoß in den Rücken. Ich stürzte vor, schrie, als ich in das kalte Wasser eintauchte, und verstummte gerade noch rechtzeitig, bevor das salzige Nass über meinem Gesicht zusammenschlug.
»Finn«, brüllte ich halb wütend, halb lachend, als ich wieder auftauchte. Das Wasser war herrlich erfrischend, während ich mich auf der Stelle tretend nach meinem Bruder umsah. Doch auf dem Steg stand bloß Fearghas, der ein unschuldiges Lächeln aufgesetzt hatte. Neben mir strampelte Finn im Wasser und schlug mit der flachen Hand so gegen die Oberfläche, dass sich ein Schwall über den Steg ergoss. Leider ohne Fearghas zu erreichen.
»Komm auch rein, wenn du dich traust«, brüllte Finn und spritzte erneut.
»Nein, tut mir leid. Ich habe leider keine Zeit.« Entgegnete er mit einem Zwinkern und deutete auf ein näherkommendes Motorboot. »Ich bin verabredet.«
»Ja, klar. Du bist ein Weichei«, murmelte ich leise und lief rot an, als er mir direkt in die Augen sah, als ob er meine Worte verstanden hatte. Doch er schwieg und hob lediglich kurz eine Hand und schlenderte dann über den Steg davon auf das Boot zu, das am anderen Ende hielt. Mehrere Jugendliche saßen darin und begrüßten Fearghas johlend. Kurz darauf brausten sie mit ihm davon.
*
Nach dem Abendessen saß ich noch lange auf der Terrasse des Ferienhäuschens und las in meinem Buch. Meine Eltern spielten mit Finn Uno, doch ich hatte keine Lust darauf. Es lief bei diesem Spiel immer auf dasselbe heraus. Mein Bruder zockte uns alle ab, und mein Vater raufte sich seine spärlichen Haare. Da saß ich doch lieber hier und genoss die Ruhe. Als sich knirschende Schritte auf dem Schotterweg näherten, sah ich auf und bemerkte erst jetzt, dass der Abendhimmel sich inzwischen mit dunklen Gewitterwolken zugezogen hatte. Wind war aufgekommen, den ich gar nicht bemerkt hatte, weil ich völlig windgeschützt zwischen den Häusern saß. Er zerzauste Fearghas das Haar und zerrte an seinem Hemd, das klatschnass an seinem Oberkörper klebte, als er durch das Tor schritt. Sein Gesicht wirkte seltsam angespannt und ja, eigentlich sogar zornerfüllt.
»Hallo«, sagte ich, unsicher, ob ich mich überhaupt bemerkbar machen sollte.
Fearghas stockte und starrte mich an. Seine Augen funkelten so voller Wut, dass ich mich für einen kurzen Augenblick versteifte. Dann fuhr er sich mit der flachen Hand über das Gesicht und seufzte leise. »Hallo«
»Entschuldige, ich gehe wohl besser rein«, sagte ich und wollte aufstehen, dabei fiel mir auf, dass auch seine Jeans völlig durchnässt war.
»Nein, nein!«, stieß er eilig hervor und hob beschwichtigend die Hand. »Nein, ist schon in Ordnung. Das ist eure Terrasse. Du kannst dort sitzen, wann du willst. Und ich hatte sowieso vor, ins Haus zu gehen.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich und biss mir auf die Lippen. Es ging mich nichts an. Ich kannte ihn noch nicht mal. Aber dennoch, Fearghas wirkte so aufgebracht, dass ich einfach fragen musste.
Er betrachtete mich kurz, dann zuckte er mit den Schultern. Sein Blick wurde etwas milder, aber immer noch war die Wut darin deutlich zu sehen. Ich sah aber auch, dass sie sich nicht gegen mich richtete. Wahrscheinlich hatte er einen Streit mit seinen johlenden Freunden vom Boot gehabt. Allerdings frage ich mich schon, warum er so nass dabei geworden war. Ob sie ihn wohl ins Wasser geworfen hatten?
»Ich habe mich nur über die Idioten geärgert, mit denen ich unterwegs war. Das ist alles«, entgegnete er langsam und bestätigte damit meine Vermutung. Doch ich hörte auch deutlich heraus, dass das eigentlich nicht alles war. Aber ich schwieg und nickte bloß.
Ein Blitz zuckte über den Himmel und beleuchtete Fearghas auf unheimliche Weise. Seine Augen wirkten dadurch überdimensional groß für sein Gesicht. Donner folgte nahezu zeitgleich, und ich zuckte zusammen. Dieses Bild hätte jedem Gruselfilm alle Ehre gemacht.
»Du solltest doch besser hineingehen«, sagte er, und auf einmal klang es doch ein wenig wie eine Drohung. Ich nickte eilig, nahm mein Buch und war froh, als ich die Tür hinter mir ins Schloss zog und mich zu meiner Familie gesellen konnte. Plötzlich fand ich es gar nicht mehr so dramatisch, dass Finn mir ständig die gemeinen Karten aufdrückte und ich mehr und mehr Karten in der Hand hielt.
Zufrieden strich mein Vater nach einer Weile über seinen Schnauzbart, der inzwischen mit vielen Silberfäden durchzogen war, als er schließlich die letzte Karte ablegte und seine leeren Hände präsentierte: »Gewonnen!«, verkündete er freudestrahlend wie ein Kind. »Der alte Uno-Meister ist abgesetzt! Es lebe der Uno-Meister!«
»Ich will Revanche!«, forderte mein Bruder und schob meinem Vater den Stapel Karten zu, damit dieser sie neu mischen konnte.
Ich lehnte mich zurück und genoss das Geplänkel und die Sicherheit, die in dieser Runde herrschten, während draußen ein Sturm über das Land zog, der einen Lärm veranstaltete, als wollte er alles zerschlagen. Die Begegnung mit Fearghas hatte ich vollständig vergessen, als ich Stunden später schlafen ging.
Kapitel 2
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war von dem Gewitter, nichts mehr zu sehen. Die Sonne schien bereits wieder klar vom wolkenlosen Himmel und leerte die Pfützen, die hier und da entstanden waren.
Meine Familie und ich fuhren nach Oban, einer hübschen Stadt, die direkt an der Küste lag, und mit vielen Geschäften und Cafés lockte. Meine Mutter stürmte die Touristeninformation und stopfte jeden Flyer, für den sie nichts zu bezahlen brauchte, in ihren übergroßen Rucksack.
»Oh, sieh mal, Markus«, rief sie nach meinem Vater und deutete auf ein Plakat an der Wand, auf der ein Seehundbaby abgebildet war. »Hier bekommen wir die Karten für den kleinen Zoo zehn Pfund billiger. Lass uns gleich welche mitnehmen. Wir wollten doch sowieso die Tage da hin.«
Mein Vater nickte und ging zum Schalter, während meine Mutter weiterhin Flyer einpackte, als könnte sie uns damit die nächsten vierzehn Tage verpflegen. Hochrot im Gesicht schleppte sie den schweren Rucksack dann später durch die vielen Gassen. Aber sie verlor darüber kein Wort. Ich wusste bereits jetzt, dass sie den Nachmittag damit verbringen würde, die Flyer zu studieren und anschließend zu einem wandelnden Reiseführer mutierte, der die Gegend in- und auswendig kannte.
Als wir zurück zu unserem Ferienhaus gelangten, parkte ein Polizeiauto im Hof der Farm. Ein Polizist stand mit Fearghas und Adam vor der Haustür. Alle drei sahen flüchtig auf und unterhielten sich dann weiter. Während meine Familie ins Haus ging, blieb ich vor dem Gartenzaun stehen. Nur beiläufig streichelte ich Dee und Etive, die wieder zur Begrüßung heranstürmten und ihre Nasen fordernd in meine Handflächen vergruben. Viel mehr interessierte mich, worüber sich die Männer unterhielten. Adam sagte etwas zu seinem Sohn, der daraufhin wütend den Kopf schüttelte: »Wie ich bereits mehrfach sagte, ich bin einfach nur nach Hause geschwommen.«
»Aber es war spät am Abend, ein Gewitter zog herauf und die Insel, auf der die Jungs festsaßen, ist verdammt weit draußen für einen Schwimmer.« Der Polizist notierte sich etwas in ein Notizbüchlein, während er sprach. Dann stemmte er die Arme in die Seiten. »Hör zu, Junge. Das wäre schon bei ruhigem Wasser eine lange Strecke. Mit dem Boot ist es eine gute halbe Stunde.«
»Das Wasser war eigentlich ruhig. Nur die Idioten waren einfach zu blöd und mussten ja unbedingt die Seehunde jagen. Ich jedenfalls hatte keine Lust auf der Insel mit ihnen zusammen festzuhängen, nachdem das Boot umgekippt ist, und bin in unsere Bucht geschwommen. Was anderes habe ich nicht zu sagen. Und ich habe auch nicht das Boot umgeworfen, falls Sie auf diese Idee kommen sollten.«
»Nein!«, der Polizist hob abwehrend die Hände und lachte. »Das halte ich dann doch eher für unmöglich. Dann könnte ich genauso gut behaupten, ein Selkie hat den Sturm über die Jungs gerufen, weil sie die Seehunde bedroht haben.« Er steckte das Notizbuch in seine Brusttasche und hielt Fearghas und Adam die Hand hin, um sich zu verabschieden. »Nun gut, Fearghas, da sich die anderen Jungs Sorgen um deinen Verbleib gemacht haben, musste ich für meinen Bericht wissen, wie du hierhergekommen bist. Aber wenn du bei deiner Geschichte bleibst ...«, er zuckte mit den Schultern, » … dann werde ich es so in meinen Bericht schreiben. Einen schönen Tag noch.« Damit tippte er grüßend gegen den Schirm seiner Dienstmütze, stieg in sein Auto und fuhr davon. Fearghas und Adam sahen ihm nach, dann gingen sie in ihr Haus, ohne mich zu beachten.
War er wirklich am Abend eine Strecke geschwommen, für die man mit dem Boot bereits dreißig Minuten brauchte? Das würde zumindest erklären, warum er gestern vollkommen durchnässt war und vielleicht auch seine Wut. Nachdenklich ging ich ins Haus.
*
Den Rest des Tages bekam ich Fearghas nicht mehr zu Gesicht. Auch als wir später am Abend wieder zum Anleger gingen, weil mein Vater und mein Bruder dort noch angeln wollten, war er weit und breit nicht zu sehen. Also setzte ich mich dort auf eine Bank, die im Schatten eines großen Baumes stand, und holte mein Buch heraus. Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass der Held des Buches eine Art Wassermann war, der natürlich schwimmen konnte wie ein Fisch. Nachdenklich sah ich auf das Wasser und versuchte mir Fearghas als Meermann mit Fischschwanz vorzustellen, mit dem er locker die größten Wellen durchpflügte.
»Na, von wem träumst du denn?«
Die Stimme meiner Mutter holte mich aus meinem Tagtraum zurück. Ich kicherte verlegen und schüttelte den Kopf. Doch meine Mutter warf einen Blick auf das Buch in meiner Hand. Sie hatte es vor mir gelesen und nickte lächelnd.
»Hier könnte man sich wirklich einen Wassermann vorstellen. Wenn nicht hier, wo dann?« Dann holte sie ein Blatt Papier hervor, auf dem ein kleiner Teil des Lochs aufgezeichnet war, genauer gesagt, die nähere Umgebung des Hafens.
»Adam hat uns diese Karte gezeichnet, damit wir morgen eine Bootstour machen können.« Sie fuhr mit der Fingerspitze einmal über die Karte und tippte auf ein paar kleinere Inseln. »Dort gibt es ganz viele Seehunde, und hier ist wohl das Boot von Fearghas und seinen Freunden umgekippt.« Jetzt fuhr sie den ganzen Weg auf der Karte wieder zurück bis zu unserer Bucht. »Er ist also einen erstaunlich langen Weg zurückgeschwommen. Da kann man schon mal an Wassermänner glauben, nicht wahr?« Ihre blauen Augen blitzten begeistert. Meine Mutter liebte solche Ideen und hatte mir erzählt, dass sie sogar fest an die Existenz von Nessie glaubte.
Skeptisch sah ich in die Richtung, in der die Inseln liegen mussten, die aber von hier nicht zu sehen waren, zum Teil, weil sie von der gegenüberliegenden Insel verdeckt wurden. Ich konnte mir schon kaum vorstellen bis zum anderen Ende der Insel zu schwimmen, geschweige denn weiter.
»Vielleicht ist er aber auch nur von hier«, ich deutete auf die Inseln der Seehunde, »bis zu der Insel dort geschwommen. Dann ist er über die Insel gelaufen und nur wieder den Rest zu unserem Anleger herüber?«
»Wäre trotzdem noch weit, findest du nicht?«
»Es gibt keine Wassermänner, weißt du?«, sagte ich und sah sie zweifelnd von der Seite an. Ich war mir nicht sicher, wie ernst es ihr war. »Vielleicht ist er einfach nur ein guter Schwimmer. Hast du mal seinen Oberkörper gesehen? Er sieht aus wie einer dieser Olympiaschwimmer.«
»Ja, habe ich. Ich bin zwar viel älter als du, aber blind bin ich deswegen noch nicht.« Sie zwinkerte mir vergnügt zu und scheuchte mit ihrem Buch eine lästige Mücke davon. Ich warf einen erstaunten Blick auf den Titel. »Mein Herz für den Hochländer?«, fragte ich. Sie las zwar auch gerne Geschichten, die im Urlaubsland spielten, aber Kitschromane gehörten normalerweise nicht dazu.
»Es ist furchtbar«, gestand sie grimmig. »Aber jetzt lese ich es auch zu Ende.« Damit schlug sie es auf und begann zu lesen. Ich beobachtete sie dabei, wie ihre Augen über die Zeilen huschten und sie dabei immer wieder den Kopf schüttelte und die Augen verdrehte. Dennoch las sie Zeile um Zeile tapfer weiter und vergaß mich und die leidigen Wassermänner.
*
Lustlos trabte ich meiner Familie am Morgen unseres dritten Tages hinterher. Adam hatte meinen Eltern eine Bootstour empfohlen, die an den Seehundinseln vorbeiführte. Mit etwas Glück sollten wir auch Schweinswale sehen können, die mit der Flut den Makrelenschwärmen ins Loch hinein folgen sollten. Da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen und mich die Aussicht auf ein paar niedliche Seehunde schon lockte, hatte ich mich nach einigem Hin und Her doch noch dazu durchgerungen, mitzufahren.
Als wir bei den Inseln ankamen, lagen dort unzählige Seehunde mit ihren Jungtieren, die sich augenblicklich ins Wasser stürzten, wenn wir zu nahe kamen. Verzweifelt versuchte ich, brauchbare Fotos mit meinem Handy zu schießen, was bei diesem Wellengang, wenn auch kaum einer da war, so gut wie unmöglich schien. Meine Mutter tippte mich an und zeigte auf die Insel, die in meinem Rücken lag. Während mein Vater und Finn sich gemeinsam aufstellten und unter leisem Gelächter aus dem Boot pinkelten, flüsterte sie:
»Hier ist das Boot gekentert. Kannst du dir vorstellen, das Fearghas dort rüber geschwommen ist? – Also, wenn ihn kein Boot mitgenommen hat, halte ich es doch bei stürmischem Wetter eher für unwahrscheinlich.«
Ich folgte dem Blick meiner Mutter. Sie hatte Recht. Die hauptsächlich aus grauen Felsen bestehende Insel war schon für einen Schwimmer ganz schön weit. Und Fearghas beharrte darauf, dass er sogar noch weiter geschwommen war. Ich verstand die Zweifel meiner Mutter und die der Polizei. Dennoch sagte ich:
»Er ist halt ein durchtrainierter Schwimmer und kennt die Gewässer.«
Meine Mutter winkte wortlos ab. Das Thema schien damit, vorerst für sie beendet zu sein. Finn und mein Vater hatten sich zwischenzeitlich wieder gesetzt und die Angeln ausgeworfen, die wir im Schlepp hinter uns herzogen. Die beiden hatten die Hoffnung, so unser Abendessen fangen zu können, doch leider vergeblich!
»Da!«, schrie meine Mutter plötzlich hysterisch und zeigte fuchtelnd hinter unser Boot. »Schweinswale!«
Einige Meter entfernt tauchten immer wieder die kurzen runden Rücken der doch recht kleinen Tiere auf und bescherten uns eine mittlere Panik. Wir konnten unser Glück kaum fassen, tatsächlich auch noch Schweinswale zu sehen. Als sie so schnell wieder verschwunden waren, wie sie aufgetaucht waren, tuckerten wir rundum zufrieden wieder nach Hause; wenn auch leider ohne Abendessen.
Schon von weitem konnte ich Adam erkennen, der auf dem Steg stand und wie verabredet auf uns wartete.
»Wart ihr erfolgreich?«, fragte er und nahm das Tau entgegen, das meine Mutter ihm reichte. Mit geübten Bewegungen befestigte er unser Boot und half uns beim Ausladen.
»Oh, wir haben Seehunde und Schweinswale gesehen!«, rief Finn und sprang mit einem riesigen Satz auf den Steg.
»Aber leider keine einzige Makrele gefangen.« Meine Mutter folgte erheblich vorsichtiger. Kritisch betrachtete sie den Steg, bevor sie ihn betrat, als könnte er sich plötzlich abrupt zur Seite neigen und sie ins Wasser schubsen.
»Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte Adam zuversichtlich und nahm uns das Angelzeug ab. Ich nahm die Schwimmwesten und lief zum Bootshaus, um sie dort zu verstauen. Als ich heraustrat, prallte ich gegen einen Mann, der unversehens vor mir auftauchte.
»Oh, Verzeihung«, murmelte er und räusperte sich. »Gehören Sie zum Bootsverleih?«
»Nein. Tut mir leid. Ich bin nur Feriengast«, antwortete ich und schob mich an ihm vorbei. Der Mann wandte sich langsam um und sah kurz zu Adam hinüber, der mit meinen Eltern auf dem Steg stand und sich unterhielt. Er war groß mit einer sportlich schlanken Statur und trug über einer schwarzen Jeans einen modischen Blazer.
»Vielleicht können Sie trotzdem helfen und eine Frage beantworten?«
Er lächelte mich an. Er war sicherlich als gutaussehend zu bezeichnen. Für sein Alter jedenfalls. Er mochte um die dreißig Jahre alt sein. Ein Grübchen wanderte in seine Wange und ließ sein männlich geschnittenes Gesicht verschmitzt aussehen. Doch mir entging nicht, dass das Lächeln nicht seine dunklen Augen erreichte und einfach nur eingeübt geschäftsmäßig wirkte. Er musterte mich und schien beschlossen zu haben, dass ich nicht gesiezt werden musste. »Weißt du«, fuhr er fort, »ob das Boot, das draußen gekentert sein soll, von hier stammte?«
Ich wusste nicht wieso, aber irgendetwas ließ mich plötzlich vorsichtig werden. Die Art, wie er immer wieder zu Adam hinübersah. Es wirkte auf mich, als wusste dieser Mann ganz genau, dass er nur ihn zu fragen brauchte, es aber aus irgendeinem Grund nicht tat.
Ich machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf:
»Nein, das Boot kam nicht von hier!« Und das war ja auch im Grunde genommen keine Lüge. Fearghas war hier lediglich von seinen Freunden abgeholt worden. »Wieso möchten Sie das denn wissen?«
»Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Verzeihung!« Der Mann lächelte erneut. Wieder tauchte das Grübchen auf. Seine dunklen Augen waren von langen gebogenen Wimpern umrahmt und erinnerten mich wage an Fearghas. Wieder eine Verschwendung an einen Mann, die eher einer Frau zugestanden haben sollte. »Mein Name ist Sean McDougal. Ich arbeite für die hiesige Zeitung und wollte den Jungen interviewen, der durch das Loch geschwommen sein soll, um Hilfe für seine Freunde zu holen.«
»Hier gibt es keinen Jungen«, log ich diesmal unverfroren. »Die Söhne von Adam sind schon erwachsen und nicht mehr hier.«
»Oh, wie schade.« Der Reporter sagte es so, als wollte er sagen: »Ich glaube dir kein Wort, du kleine Lügnerin«, aber das war vielleicht auch nur meinem schlechten Gewissen zuzuschreiben, dass gerade vorwurfsvoll mit dem Finger auf mich zeigte. »Dann werde ich mich wohl woanders umhören müssen.«
»Ja, sieht so aus«, sagte ich und biss mir auf die Lippen. Adam kam jetzt mit meinen Eltern den Steg herunter. Hoffentlich entlarvte mich gleich niemand von ihnen als Lügner.
Doch diese Sorge war unbegründet. Auch dem Reporter war nicht entgangen, dass Adam auf das Bootshaus zukam. Mit einem knappen Nicken verabschiedete er sich und schlenderte betont lässig davon.
Ich sah ihm hinterher, bis er verschwunden war. Eine kleine Stimme in meinem Inneren flüsterte mir mit leichter Paranoia zu, dass dieser Mann dort niemals ein Reporter gewesen sein konnte. Doch bevor ich mich näher mit diesem Gedanken befassen konnte, riss Finn mich von diesen fort. Wie ein Sack ließ er sich rücksichtslos neben mich auf die Bank plumpsen, auf die ich mich inzwischen gesetzt hatte.
»Wir gehen jetzt ins Haus. Ich bin total kaputt«, seufzte er mit einem glücklichen Ausdruck im Gesicht.
»Ach, ich bleibe noch eine Weile hier und werde lesen. Es ist zu schön hier.«
»Bleib nicht zu lange«, sagte mein Vater, der dazu trat. »Komm nach Hause, bevor es dunkel wird.«
»Ja, ist gut.«
Auch ihnen sah ich eine Weile hinterher. Meine Eltern liefen Hand in Hand mit Finn den Weg zurück. Ich konnte ihnen förmlich ansehen, dass sie sich hier wohl fühlten. Eine zufriedene Ausstrahlung ging von ihnen aus, die ich in jeder Geste sehen konnte. Und auch ich musste zugeben, dass Schottland anscheinend gar nicht so schlecht war. Meine Abneigung hatte schon unter dem herzlichen Empfang von Adam und Mairee zu bröckeln begonnen. Ganz zu schweigen von der wirklich schönen Gegend. Auch ich konnte mich nicht der Faszination entziehen, die das Loch mit seinen grünen Inseln und den gewaltigen Berghängen vom gegenüberliegenden Ufer auf mich ausübte.
Ich nahm mein Buch und ging bis zum Ende des Steges. Dort zog ich meine Schuhe aus und setzte mich. Langsam ließ ich meine Füße mit angehaltenem Atem in das kalte Wasser gleiten. An dieser Stelle war das Wasser völlig dunkel. Bereits am Steg fiel der Grund des Lochs auf zehn Meter Tiefe ab. Ich sah über die glatte Fläche. Wie tief mochte es weiter draußen wohl sein, und was trieb sich in der Dunkelheit alles herum? Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich, aber ich ließ meine Füße, die ich gerne an mich gezogen hätte, wo sie waren. Ich wollte mich nicht von meiner Fantasie beeindrucken lassen.
Für eine Weile saß ich nur da und genoss die Einsamkeit und die Stille. Lediglich das leise Gluckern des Wassers, das leicht gegen das Metall des Steges schlug, war zu hören. Neugierig betrachtete ich die zwei Segelboote, die etwas weiter draußen lagen. Die kleine Bucht bot wirklich einen gut geschützten Ankerplatz. Ob jemand auf den Booten schlief? Für den Moment schien ich jedenfalls völlig alleine zu sein. Zufrieden nahm ich mein Buch und begann zu lesen. Gerade geriet der Held in Gefahr. Die Spannung überlief mich mit einem Schauer, als sich plötzlich etwas um meinen rechten Knöchel legte und mich, wie mit einem Schraubstock festhielt. Mein Herz setzte aus. Ich schrie!
Der Griff löste sich augenblicklich, und vor mir tauchte das verlegene Gesicht von Fearghas auf.
»Bist du eigentlich vollkommen verblödet?«, schrie ich ihn wutentbrannt an. Am liebsten hätte ich auf das Wasser geschlagen, so viel Zorn rannte durch mich hindurch. Zitternd vor Schreck umklammerte ich meine Knie und legte den Kopf darauf, um mich wieder zu beruhigen.
»Entschuldigung. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du so schreckhaft bist.« Er lächelte ein wenig verzweifelt und zog sich mit einer beeindruckend spielerischen Bewegung auf den Steg. »Tut mir wirklich leid, aber es war so verlockend, als ich deine Füße gesehen habe.«
Er wirkte so beschämt, dass ich mir plötzlich albern vorkam. Beinahe hätte ich geseufzt, stattdessen entrang ich mir ein abfälliges Schnauben. Zu leicht wollte ich es ihm auch nicht machen.
»Schon gut. Ich war gerade in einem sehr spannenden Teil in meinem Buch vertieft. Du hast das Talent mir immer im unpassendsten Augenblick zu begegnen«, sagte ich und ließ meine Füße zurück ins Wasser gleiten.
»Ah, und wie reagierst du auf mich in den passenden Augenblicken?«, schmunzelte er.
Oh, mein Gott! Ein tiefes Grübchen rutschte neben sein Lächeln, während ich gegen die Hitze in meinen Wangen kämpfte.
»So, wie man eben reagiert, wenn man irgendjemanden begegnet, den man schon mal gesehen hat. Ich sag Hallo«, entgegnete ich leicht schnippisch und trat nun spielerisch mit dem Fuß ins Wasser. »Ich habe dich übrigens vor einem Reporter verleugnet, der nach dir gefragt hat. Ich habe behauptet, dass Adam nur erwachsene Söhne hat.«
»Du hast ihn angelogen?« Er musterte mich interessiert und kein bisschen böse, was ich zunächst befürchtet hatte. Dabei bogen sich seine Augenbrauen wie geschwungene Brücken über die dunklen Seen seiner Augen. »Wieso?«
»Ich fand ihn komisch«, antwortete ich lahm, weil ich selber merkte, wie dumm sich das anhörte.
»Du bist schon ein wenig seltsam, Klara. Das weißt du schon, oder?«
»Sagte der Junge, der behauptet eine Strecke geschwommen zu sein, die ihm niemand recht glauben kann«, konterte ich.
»Okay, komm mit.« Fearghas stand auf und streckte mir seine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Ich ließ mich hochziehen und versuchte dabei nicht auf seinen mehr als durchtrainieren Oberkörper zu starren. Bei jeder Bewegung quollen an irgendeiner Stelle Muskeln vor.
»Was willst du mir zeigen?«, fragte ich und konzentrierte mich auf sein Gesicht, was nicht weniger beunruhigend auf mich wirkte.
»Steig ins Boot. Kommst du mit der Steuerung klar?«
»Ja, natürlich.«
»Ich möchte dir beweisen, dass ich die Strecke locker schaffe.«
»Du spinnst!«, sagte ich und blieb stehen. »Du musst mir wohl nichts beweisen. Das Ganze geht mich noch nicht einmal etwas an.«
»Und dennoch hast du dich doch bereits eingemischt, oder nicht? Du lügst irgendwelche Fremden an, weil du denkst, dass ich etwas zu verbergen habe.«
Mir wurde plötzlich unangenehm bewusst, dass er immer noch meine Hand hielt. Mein Magen zog sich ein wenig zusammen, und das war ganz bestimmt kein unangenehmes Gefühl. Ich stand hier in dieser doch inzwischen ganz traumhaften Kulisse mit diesem … Schotten und hatte keinerlei Ahnung, wo ich jetzt noch hinschauen sollte, ohne mein Gesicht in ein purpurnes Bonbon zu verwandeln. Fearghas schien meine Verlegenheit nicht zu bemerken und zog mich sanft weiter. »Bitte!«, sagte er und schenkte mir einen bettelnden Blick. Ich seufzte und atmete tief ein.
»Na gut, aber ich muss vor Dunkelheit zu Hause sein.«
»Das ist kein Problem.« Er warf einen Blick zur Sonne, die sich langsam zu neigen begann. »Wir müssen nur mit dem Boot aus der Bucht heraus.«
Also stiegen wir in das Boot und fuhren kurz darauf auf das Loch hinaus. Das Wasser war immer noch so ruhig, wie vorhin, als ich mit meinen Eltern draußen gewesen war. Leichte Wellen schlugen gegen das Boot, die die gleiche graue Farbe hatten wie der ausnahmsweise wirklich schottisch wirkende wolkenverdeckte Himmel. Langsam tuckerte Fearghas dahin und sah auf einem imaginären Punkt. Dabei wirkte er, als ob er mich inzwischen vollkommen vergessen hatte. Wieso wollte er ausgerechnet mir beweisen, wie gut er als Schwimmer war? Ich wurde immer neugieriger und hielt es nicht länger aus, nachdem wir die Bucht hinter uns gelassen hatten: »Was ist denn überhaupt passiert? Bei diesem Unglück, meine ich.«
Fearghas richtete seine großen Augen auf mich und stellte den Motor ab. Eine Gänsehaut raste über meine Arme und meinen Rücken. War ich eigentlich noch bei Trost? Niemand wusste, wo ich war. Wenn er wollte, konnte er mich hier einfach ins Wasser werfen. Ich sah zum Ufer hinüber, das mir plötzlich viel zu klein und viel zu weit entfernt vorkam. Ich würde diese Strecke definitiv nicht mal eben so schaffen.
»Meine Freunde und ich sind zu einer Bucht gefahren und waren dort schwimmen«, begann Fearghas da langsam und sah mich dabei unverwandt an. »Wir haben gegrillt und getrunken. Einige von uns vielleicht zu viel. Auf dem Rückweg kamen wir bei den Seehunden vorbei. Mein Freund Liam hatte Wurfsterne dabei. Das ist so ein dummes Hobby von ihm. Und damit hat er dann nach den Seehunden geworfen. Die anderen fanden das ungemein lustig und machten mit. Als sie sich nicht aufhalten ließen, wurde ich so wütend, dass ich aufgesprungen bin und das Boot mit Absicht zum Kentern gebracht habe. Es war nicht weiter schwer. Wir hatten bereits heftigen Wellengang.« Er schwieg, sah mich aber weiterhin an. Dabei entging ihm auch nicht, wie meine Hände ängstlich nach sicherem Halt suchten. Ich warf einen prüfenden Blick auf die Wellen und versuchte abzuschätzen, wie leicht es ihm wohl an einem Tag wie heute fallen würde, das Boot umzuwerfen.
»Ich habe mich vergewissert, dass sich alle auf die Inseln retten konnten, und bin dann nach Hause geschwommen. Von dort hat mein Vater die Rettung angerufen. Das ist alles.« Damit stand er auf.
Erschrocken klammerte ich mich an beiden Seiten des Bootes fest. Ich hasste es zutiefst, wenn jemand in einem Boot aufstand und es dann, wie wild zu schaukeln begann. Doch nichts geschah. Das Boot schaukelte nicht mehr als zuvor.
»Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet dir das gleich zeige, aber ich muss es dringend loswerden.«
Noch ehe ich fragen konnte, setzte er mit einem eleganten Kopfsprung über die Bordwand, und wieder schien das Boot dies kaum zu bemerken. Fearghas tauchte sofort wieder auf und sah mich merkwürdig an. Er war doch nicht verrückt, oder?
»Ich schwimme täglich durch die Bucht«, erklärte er und tauchte ab. Verdammt, wohin? Suchend sah ich über die Wasseroberfläche, als er bereits wieder auf der anderen Seite auftauchte und sich leicht an der Bordwand festhielt. Das Boot kippte unmerklich und brachte mein Herz zum Jagen.
»Das erklärt schon, warum du so eine weite Strecke schwimmen kannst«, plapperte ich halbherzig. Ich hatte mal gehört, dass man Verrückten gut zureden sollte. Ich hob meine Hand und verbiss mir einen Fluch. Beinahe hätte ich tatsächlich seine Hand getätschelt. Er musste es bemerkt haben, denn er grinste, was mich nun auch nicht gerade beruhigte.
»Und wenn das Loch zufriert?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen.
»Dann schlage ich ein Loch in das Eis«, antwortete er, und jetzt wurde sein Grinsen richtig wild. Doch er bemerkte, dass er mich verängstigte. Seine Miene wurde schlagartig ernst. »Tatsächlich schwimme ich jeden Tag, Klara. Aber im Winter bin ich immer nach Oban ins Schwimmbad gefahren. – Ich war immer ein guter und schneller Schwimmer, aber vorgestern ist etwas geschehen, das alles verändert hat.« Er stieß sich leicht von der Bordwand ab und schwamm einige Züge zurück. »Als wir ins Wasser stürzten, spürte ich keine Kälte – auch jetzt tue ich das nicht. Und ich war so schnell wie nie zuvor. Sieh selbst.« Fearghas drehte sich im Wasser und – konnte ich es wirklich noch schwimmen nennen? – schoss davon. Mit fließenden Bewegungen glitt er in erstaunlicher Geschwindigkeit durch das Wasser, dass ich es kaum glauben konnte. Ich starrte ihm nach, aber mein Verstand konnte nicht ernsthaft aufnehmen, was er da sah. Mit offenem Mund verfolgte ich, wie er zu den Seehundinseln und wieder zu mir zurückschwamm. Immer noch sprachlos starrte ich ihn an, als er sich neben dem Boot ausstreckte und einfach treiben ließ. Nicht der geringste Hinweis auf körperliche Anstrengung war zu erkennen.
Okay, dachte ich und versuchte mein Gehirn wieder zu starten. Er hatte ja wirklich den Oberkörper eines Profi-Schwimmers, aber das, was ich gerade gesehen hatte, war schlicht absurd und mit bloßem Training nicht zu erklären. Also, wie konnte das sein? Ein geheimes Militärexperiment, vielleicht? Vielleicht doch so ein Wassermann wie in meinem Buch? Lächerlich! Ich schnaubte, und Fearghas sah auf und warf wieder einen Blick auf die Sonne, die sich bald hinter den Bergen verstecken würde. »Es wird bald dunkel. Wir müssen zurück.« Wieder zog er sich mit dieser erschreckenden Leichtigkeit ins Boot und sah mich an, während er den Motor startete. »Und? Glaubst du mir jetzt?«
Ich nickte nur. Was hätte ich auch sagen sollen? Normal war anders.
Auf dem Rückweg sprachen wir nicht miteinander. Zu sehr beschäftigte mich das, was ich gerade gesehen hatte. Ich saß bloß da und versuchte ihn möglichst unauffällig zu beobachten. Erst als wir bereits den Weg zum Haus hinauf gingen, hielt er mich kurz auf.
»Klara?«, sagte er leise.
Überrascht begegnete ich seinem scheuen Blick.
»Bitte erzähl niemandem davon.«
»Wovon?«, sagte ich und lächelte schwach. Seine Hand brannte sich dabei in meine Haut. Er nahm sie fort, Erleichterung in der Stimme:
»Danke!«
Ich nickte und öffnete unser Törchen, um zur Tür zu gehen.
»Hättest du vielleicht Lust, morgen Nachmittag eine Radtour mit mir zu machen?«
Eine Radtour in Schottland? Automatisch schob sich das Bild vor meine Augen, in dem ich völlig verschwitzt und atemlos das Rad irgendwelche Bens hochschob. Kein verlockender Gedanke, mich derartig zu blamieren. Der Kampf zwischen Blamage und dem Wunsch, ein wenig Zeit mit Fearghas zu verbringen, schien mir deutlich ins Gesicht geschrieben zu sein.
»Kaum Berge und am Ende wartet eine einsame Bucht zum Schwimmen.«
Verlegen wischte ich mir ein paar Haarsträhnen aus den Augen: »Gut«, sagte ich. »Aber vormittags sind wir noch in diesem kleinen Zoo. Wir können erst danach los.«
»Ich hole dich ab.« Leise schloss er das Tor und blieb dort stehen, bis ich im Haus verschwunden war.